Freitag, Mai 07, 2010

WM-Kader

Gestern wurde, wie allseits bekannt, der Kader für die WM 2010 nominiert. Es ist schon erstaunlich, welches Medieninteresse ein solches Ereignis hervorruft. Es gibt Live-Übertragungen im Fernsehen, Live-Ticker im Internet, endlose Diskussionen unter Experten, Freunden oder Kollegen. Dabei sollte man doch eigentlich hinterfragen, über was man da diskutiert. Der Stamm von 17-18 Spielern war vorab mehr oder weniger klar. Alle, die zu diesem Stamm dazu kommen, werden aller Voraussicht nach wenig oder keine Einsatzzeit bekommen. Wir sprechen also von Spielern, die eine zweifelhafte Berühmtheit wie Günther Hermann, Paul Steiner, Hansi Pflügler, Rene Schneider, Robert Huth oder Marko Rehmer erlangen können. Und nur Freaks wie ich können diesen Spielern auf Anhieb die internationalen Turniere zuordnen, die sie weitgehend oder komplett von der Ersatzbank aus verfolgen durften.
Die Einzigen, die diese Entscheidung also wirklich interessieren sollte, sind die betroffenen Spieler selbst und vielleicht noch ihr näheres Umfeld, also Familie, Freunde oder Vertreter ihres Vereins. Die Enttäuschung von Hitzlsperger, Schäfer, Hinkel, Gentner, Frings oder Kuranyi kann man also durchaus mitfühlen und sollte man auf keinen Fall vergessen.

Aber warum hat ganz Fußballdeutschland ein derartiges Interesse daran?
Das eine oder andere Argument gibt es schon:
Zum Einen weiß man ja nie, ob man während eines langen Turniers derart von Verletzungen und Sperren gebeutelt wird, dass man doch auf die Hinterbänkler im Kader zurückgreifen muss. Hier sei an die Europameisterschaft 1996 erinnert, bei der Jens Todt mittels Sondergenehmigung der UEFA nachnominiert wurde und Berti Vogts während einer Pressekonferenz mit einem Terrier-Grinsen im Gesicht Feldspieler-Trikots der Ersatztorhüter Kahn und Reck präsentierte. Man stelle sich das vor! Der Titan faustet jede Ecke ins gegnerische Tor und „Pannen-Olli“ köpft noch viel mehr Eigentore als im gewohnten Torwarttrikot. Wenn es so weit gekommen wäre, würden heute noch alle Tschechen mit Karel Poborsky-Gedächtnisfrisur herumrennen.
Zum Anderen zeigt dies einfach, wie hoch bei uns das Interesse an und die Identifikation mit der Nationalmannschaft sind. Und das gilt nicht nur für die eingefleischten Fußballfans. Denn während einer WM gibt es auch unter „Fußball-Laien“ immer ein großes Interesse. Ich denke, dass dies nicht ein isoliertes Phänomen der Heim-WM 2006 war, sondern dass sich dies – wenn auch in abgeschwächter Form – 2010 wiederholen kann. Und das liegt auch nicht zuletzt an der Omnipräsenz des Fußballs in unserer Medien- und Informationsgesellschaft.

Soweit die Rechtfertigung, dass ich mich im Folgenden – natürlich – intensiv mit unserem vorläufigen WM-Kader befasse und ein paar Prognosen abgebe, wer einen Stammplatz ergattern kann:

Die Torhüter: So sehr Löw auch im Moment dementiert, die Nummer 1 kann nur Neuer heißen. Für ihn sprechen sein Alter und sein großartiges Talent. Die Fehler der letzten Spiele werden ihn nicht verunsichern, sondern in seiner Entwicklung weiterbringen. Wiese hat aus verschiedenen Gründen nicht den Rückhalt des Trainerstabs und zudem gegenüber Neuer Defizite in der Spieleröffnung. Und Butt ist einfach Butt. All jene, die ihn als die neue Nummer 1 sehen, vergessen, dass er nicht die überragenden Fähigkeiten eines Neuers oder Wieses besitzt und dass auch er keine fehlerfreie Saison gespielt hat (z.B. Manchester). Das Argument, dass er evtl. drei Vereinstitel gewinnt, ist für mich (mit Verlaub) Blödsinn. Als Nummer 3 ist er aufgrund seiner Erfahrung und seines ruhigen Wesens aber sicher besser geeignet als ein Weidenfeller.
Unabhängig davon ist die Torhüter-Position herausragend besetzt – egal wer von den drei Kandidaten die Nummer 1 ist.

Anders sieht es da in der Defensive aus, denn hier gibt es zwar vier feste Größen, die aufgrund ihrer Klasse und mangels gleichwertiger Alternativen absolut unersetzlich sind: Lahm, Mertesacker, Ballack und Schweinsteiger.
Solange die beiden letztgenannten nicht gesperrt oder verletzt sind, ist auf der Doppelsechs alles bestens. Khedira, Träsch oder Westermann stünden als Alternativen bereit. Die Viererkette, die Löw um Lahm und Mertesacker bilden soll, ist dagegen seine größte Baustelle. Als zweiter Innenverteidiger hat momentan Westermann einen kleinen Vorsprung vor Tasci, Friedrich, Boateng oder Badstuber. Bei den Außenverteidigern ist das Rennen noch offener. Lahm wird wohl eher links spielen, dann haben rechts Boateng oder Friedrich wohl die besten Karten. Bei größeren Personalproblemen können Träsch auf der rechten und Badstuber auf der linken Abwehrseite einspringen, während Aogo und Beck die Reise nach Südafrika wohl gar nicht erst antreten werden. Entscheidend wird sein, dass die Kette gut eingespielt ist und sich jeder Spieler in guter oder sehr guter Form präsentiert.
Wenn Guido Buchwald 1990 Maradona innerhalb von 90 Minuten den Vornamen klauen konnte, dann kann es auch sein, dass wir ab Juli von Lionel Friedrich sprechen – und jeder Vorname ist besser als Arne!

In der Offensive gibt es acht fast gleichwertige Kandidaten für vier Plätze, die sich je nach taktischer Ausrichtung auf 3 Mittelfeldspieler und einen Stürmer oder je zwei Spieler pro Mannschaftsteil aufteilen. Vorteile im Kampf um die Stammplätze haben wohl Klose, Özil und Podolski, der je nach System als zweite Spitze oder im linken, offensiven Mittelfeld aufläuft. Mit Marin, Müller und Kroos streiten drei Spieler um den letzten freien Platz im offensiven Mittelfeld, wobei Müller – ebenso wie Gomez – auch im Sturm gute Chancen auf Einsatzzeiten hat. Trochowski oder Jansen sowie Kießling oder Cacau müssen um ihren Platz im Flieger nach Südafrika bangen.
Die beiden, die mitfliegen, können sich auf der Ersatzbank getrost mit Ohrenstöpseln vor den Vuvuzelas schützen – sie laufen nur in Ausnahmefällen Gefahr Jogis Aufforderung zur Einwechselung zu überhören.

Alles in allem schätze ich inzwischen unsere Erfolgschancen deutlich besser ein, als noch vor einem Monat. Viele Spieler sind bereits in Top-Form (z.B. Schweinsteiger, Lahm, Özil) oder werden im Verwöhnungsbecken Nationalmannschaft zu alter Stärke finden (Klose, Podolski). Außerdem werden die Spieler des FC Bayern auf jeden Fall viel Selbstvertrauen mitbringen, egal ob es am einer, zwei oder drei Titel werden. Auch 2002 haben ja die Leverkusener Spieler wie Ballack, Schneider, Neuville oder sogar Ramelow ein tolles Turnier gespielt, trotz der drei Finalniederlagen in den Vereinswettbewerben.

Jedenfalls bin ich gespannt, ob Jogi unser Team auf höggschdes Niveau bringen kann und wie gut meine Prognosen eintreffen.